Angst vor der ersten Nacht.
Sexaufklärung im Nordirak
von Thomas von der Osten-Sacken
Wie heißt Klitoris auf Kurdisch, und gibt es ein Wort für »erogene Zone«? Diese Fragen können jetzt junge Frauen und Männer im Nordirak dem Experten-Team eines neuen Jugendmagazins stellen. Auch Opfer von Genitalverstümmelung fangen an, ein Tabu zu brechen, und sprechen immer mehr über die Schwierigkeiten ihres Sexuallebens.
Die Fragen erinnern einen an die eigene Pubertät, als man mit roten Ohren die Sexseiten der Bravo las: Da beklagt sich ein A. über seinen krummen Penis und erkundigt sich, was man dagegen tun könne; eine D. möchte wissen, ob man beim Petting seine Jungfräulichkeit verliert. Nur ist es nicht Dr. Sommer, der hier antwortet, sondern ein Team aus kurdischen Ärzten in Niga, einem der vielen neuen Jugendmagazine, die es inzwischen im Nordirak gibt.
Das erkennt man bereits an der nächsten Frage: Ein junger Mann schreibt, er sei verliebt in ein Mädchen und wolle sie heiraten. Jetzt habe er erfahren, dass sie genitalverstümmelt sei. Wie er gehört habe, würden beschnittene Frauen keine oder wenig Lust beim Sex empfinden, deshalb fragt er, ob er sie trotzdem heiraten solle. Die Antwort des Arztes ist traurig und richtig zugleich: Es stimme, dass Genitalverstümmelung das Lustempfinden von Frauen einschränke, dies solle aber kein Grund sein, jemanden, den man liebt, nicht zu heiraten.
Solche Seiten und Diskussionen wären vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen. Wie auch überall sonst im Nahen Osten sind alle Themen, die auch nur entfernt mit Sexualität zu tun haben und sich nicht in einem derben Männerwitz oder einer Fatwa fassen lassen, derart tabuisiert und schambesetzt, dass kürzlich eine englische Krankenschwester, die eine junge Frau fragte, was Klitoris auf Kurdisch hieße, das Wort nur gesagt bekam, nachdem sie versprach, es auch für sich zu behalten.
Zwar helfen inzwischen der offene Zugang zum Internet und das Satellitenfernsehen vielen jungen Menschen, die im Irak wie in anderen Ländern der Region weit über zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen, etwas mehr über Sexualität zu erfahren. Aber noch immer sind Gespräche und Fragen zu diesem Thema von Unwissen, Schamhaftigkeit und oft auch Angst geprägt.
Die Pishder, eine Region nordöstlich von Suleymaniah, ist besonders berüchtigt. Nicht nur sind hier nahezu 100 Prozent aller Mädchen und Frauen genitalverstümmelt, Heirat ist hier noch eine Familienangelegenheit, die Wünsche oder gar Sehnsüchte von Töchtern oder Söhnen zählen nicht. Oft schon im Kindesalter werden solche Heiraten arrangiert, erst vor wenigen Monaten musste ein Mädchen sterben, ermordet von Familienangehörigen, weil es sich weigerte, den für sie Auserwählten zu heiraten.
»Bisher«, sagt eine Sozialarbeiterin, die lieber ungenannt bleiben will, »galt weibliche Sexualität in unserer Gesellschaft nur als Bedrohung. Wünsche, Gefühle und das Lustempfinden von Frauen spielen keine Rolle. Die Frau hat treu zu sein und soll ihrem Mann Befriedigung verschaffen. Und das dauert oft nicht länger als zwei Minuten.«
So verwundert es nicht, dass viele Frauen ihrem Unmut Ausdruck verleihen, sobald sie darüber sprechen können. Die einen klagen über Langeweile beim Sex, für andere ist das nächtliche Pflichtprogramm zudem noch extrem schmerzhaft. In vielen Dörfern haben die wenigsten Frauen einen Frauenarzt besucht, Sexualaufklärung gibt es so gut wie keine. Immer wieder hört man, dass in Schulbüchern jene 15 Seiten, die den menschlichen Körper und seine Funktionen erklären und rudimentäre Informationen über Sexualität beinhalten, entweder vom Lehrer entfernt oder überblättert werden. »So viele Paare haben panische Angst vor der ersten Nacht, weil sie überhaupt nicht wissen, was sie da nun tun sollen«, sagt die Sozialarbeiterin.
Aber die Zeiten ändern sich, wie auch das Magazin Niga beweist.
Seit in Kurdistan eine erfolgreiche Kampagne gegen Genitalverstümmelung durchgeführt wird und fast jede Woche Artikel über dieses Thema in Zeitschriften erscheinen oder im Fernsehen darüber berichtet wird, reden immer mehr Betroffene über ihre psychischen und physischen Probleme. Und keineswegs nur Frauen. »Wir leben in der Hölle«, meint etwa ein Lehrer aus einem abgelegenen Dorf, »und müssen dafür sorgen, dass dies unseren Töchtern nicht mehr angetan wird.« Seine Frau habe beim Sex jedes Mal heftige Schmerzen, und eigentlich passiere bei ihnen schon seit Jahren nichts mehr im Bett.
Erst kürzlich hat sich in der Stadt Halabja eine erste Selbsthilfegruppe von betroffenen Frauen zusammengefunden. Sie wollen über ihre Probleme sprechen, sich austauschen und versuchen, trotz Verstümmelung ein besseres Liebesleben zu haben. Verschiedene Internetseiten aus dem arabischen Raum dienen ihnen als Ratgeber, ebenso wie die Seiten der ägyptischen Sextherapeutin Dr. Heba Kotb.
Da sich bislang weder die Vereinten Nationen noch die kurdische Regierung bemüßigt fühlen, ernsthaft etwas gegen Genitalverstümmelung zu unternehmen, liegen so gut wie keine Materialien zum Thema in kurdischer Sprache vor. Längst existieren in betroffenen afrikanischen Ländern eine Fülle von Büchern und Ratgeberliteratur für Frauen und Männer darüber, wie ein Paar auch trotz Verstümmelung der Frau ein befriedigendes Sexleben haben kann. »Das erfordert eine Kenntnis des weiblichen Körpers und seiner Funktionen ebenso wie viel Zärtlichkeit und Hingabe«, erklärt die Sozialarbeiterin. »Aber für ›erogene Zone‹ gibt es noch nicht einmal ein kurdisches Wort.«
Gespräche wie dieses, auch noch mit einem Mann aus Europa, sind Ausdruck einer neuen Offenheit. So wie heute Schnurrbärte bei Männern out sind und immer mehr junge Kurden sich elegant, fast feminin kleiden, sich die Haare wachsen lassen und sich längst vom Patriarchengehabe der Altvorderen verabschiedet haben, ändert sich auch das Verständnis von Sexualität und Liebe, vor allem in den Städten. Noch allerdings zeigen sich Schulen, Ärzte und andere offizielle Stellen völlig unfähig, darauf zu reagieren. Erst kürzlich beklagte sich eine junge Lehrerin in einer Kleinstadt darüber, dass ihre Schülerinnen sie immer öfter und offensiver zu »solchen Themen« befragten. Und teilweise auch die Mütter. Sie sei aber unverheiratet und habe »davon« so gut wie keine Ahnung, wie also solle sie den Wissensdrang ihrer Schülerinnen stillen?
Wenn man vor zehn Jahren mit Angehörigen der Mittelschicht in Suleymaniah darüber sprach, dass der Nahe Osten dringend eine sexuelle Revolution brauche, schüttelten sie nur den Kopf und meinten, so was wäre hier nicht möglich. Heute dagegen gehört die Forderung nach einem völlig neuen Umgang mit Sexualität schon fast zu ihrem Standardrepertoire. Gerade erschien, wie zur Bestätigung dieser Forderung, eine neue Publikation namens Nnmmm auf dem Markt, auf ihrer Titelseite druckte sie zwei Aufmacher: über den Fetisch Jungfräulichkeit und über die Folgen von Genitalverstümmelung.