"Die Klinge war stumpf, die Hebamme blind"
Das barbarische Ritual der Genitalverstümmelung bei Frauen wird in der muslimischen Welt viel öfter praktiziert als bekannt. Im Nordirak gehen Aktivisten von Dorf zu Dorf, um die Praxis zu bekämpfen.
Von Hannah Wettig
Zwölf Frauen haben sich in der Lehmhütte des Dorfvorstehers in dem kleinen kurdischen Ort Jalamord in Irakisch-Kurdistan versammelt. Die Sozialarbeiterin Rozan Kader ist aus der Stadt Sulaimaniya angereist, um in der Hütte einen Film über weibliche Genitalverstümmelung zu zeigen. Einige Frauen murren, dass man sie von der Arbeit weggeholt habe.
Der Dorfvorsteher schaut kurz herein und fragt, ob alles in Ordnung sei. Dann sieht man auf der Leinwand eine Ärztin über die medizinische Folgen dieses Eingriffs reden; anhand einer Zeichnung wird die weibliche Anatomie erläutert. Einige kichern, andere drehen sich beschämt weg.
Als ein islamischer Geistlicher auftritt, muss Kader den Film unterbrechen, weil wütendes Gemurmel seine Erläuterungen übertönt. "Warum wurde uns nicht gesagt, dass es nicht Sunna ist?", will eine ältere Frau wissen. Sunna bedeutet: dem islamischen Recht folgend.
Kader erläutert: "Erst jetzt wissen die Theologen, dass weibliche Beschneidung schädlich ist. Deshalb haben sie im Koran und den Erzählungen über den Propheten gesucht und dabei nichts gefunden, was sie fordert."
In den meisten muslimischen Ländern praktiziert
Tatsächlich ist umstritten, ob der Islam die weibliche Beschneidung vorschreibt. Der Prophet Mohammed soll gesagt haben: "Schneidet nicht zu viel, weil es eine Quelle der Lust für die Frau ist und der Mann es lieber hat."
In den meisten islamischen Ländern wird weibliche Beschneidung auch bis heute praktiziert. In Irakisch-Kurdistan werden Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren ohne Betäubung die Klitoris und oft auch die Schamlippen entfernt. Dagegen kämpft die deutsch-irakische Nichtregierungsorganisation Wadi. Sie setzt sich seit 1992 vor allem für Frauenrechte in der kurdischen Region im Nordirak ein.
Rozhan Kader arbeitet für Wadi. Im Morgengrauen schon war die 24-Jährige aus der Provinzhauptstadt Sulaimaniya aufgebrochen. Vorbei an den Alu- und Glasfassaden der neu erbauten Geschäftsgebäude, über eine Straße durch grasbedeckte Hügelketten. Der Erdölreichtum des Autonomen Kurdistans lässt auch in der Provinzhauptstadt kleine Dubai-Türme in die Höhe schießen.
Die Landbevölkerung jedoch lebt weiter in Armut. Bald schon endet der Asphalt, schließlich auch der Schotter, und der Geländewagen kämpft sich durch regennassen Lehmboden. Endlos öde scheint der Weg durch die Provinz Garmyan. Friedlich und fruchtbar wirken die sanften Hügel. Doch die Menschen hier haben unter Saddam Hussein Jahrzehnte der Gewalt erlebt.
Blutungen und Entzündungen häufig
Nach knapp zwei Stunden hält der Geländewagen auf einem Hügel zwischen einem Dutzend rotbrauner Lehmhütten: das Dorf Toutakhel. Ziegen laufen umher, auf einem Dach flattert Plastikfolie zum Schutz gegen den Regen. Toutakhel war bis vor einem Jahr auf keiner Karte verzeichnet.
Heute ist das Dorf im ganzen Land bekannt. Zwei Wadi-Mitarbeiter hatten sich damals verfahren. Als sie nach dem Weg fragten, wollte der Dorfvorsteher wissen, wer sie seien.
Sie erzählten, dass sie mit wenig Geld notwendige Reparaturen durchführen ließen, wenn die Dorfbewohner mitmachten. Auch von ihrem Anliegen, die Menschen über weibliche Genitalverstümmelung aufzuklären, berichteten sie. Der Dorfvorsteher lud die Fremden aus der Stadt in seine Hütte.
Deutschland spricht von "28 Ländern"
Was Toutakhel brauchte, war schnell geklärt: einen Klassenraum für die Grundschüler und einen Bus, der die älteren Kinder zur nächsten höheren Schule fährt. Aber auch für das größere Anliegen, den Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung, interessierte sich Sarhad Ajeb.
Nach einer Studie von Wadi aus dem Jahr 2008 sind 81 Prozent der Frauen und Mädchen in der Region Garmyan beschnitten: Die äußerst schmerzhafte Prozedur schränkt nicht nur das sexuelle Empfinden stark ein, sie löst auch regelmäßig Blutungen und Entzündungen aus, die bis zur Unfruchtbarkeit oder sogar zum Tod führen können.
Bis zur Veröffentlichung der Wadi-Studie galt weibliche Genitalverstümmelung als Problem Afrikas. Seit 20 Jahren gibt es dort internationale Kampagnen gegen Female Genital Mutilation (FGM). Auch die deutsche Bundesregierung unterstützt solche Kampagnen. Auf der Website des Entwicklungsministeriums heißt es: "FGM wird in 28 Ländern Afrikas sowie in einigen wenigen arabischen und asiatischen Ländern praktiziert."
Vereinte Nationen fordern weltweites Verbot
Eine nicht haltbare Formulierung findet Wadis Geschäftsführer Thomas von der Osten-Sacken: "Wie weit FGM in Asien verbreitet ist, wissen wir nicht. Weil man lange davon ausging, dass es sich um ein afrikanisches Problem handelte, gibt es für viele Länder Asiens keine Studien."
Wadi will demnächst in den Golfstaaten Studien durchführen und Anti-FGM-Programme entwickeln. Dazu war viel Überzeugungsarbeit auf internationaler Ebene notwendig. "Als wir die ersten Stichprobenuntersuchungen hatten, hat uns niemand geglaubt, auch die zuständigen UN-Stellen nicht", sagt von der Osten-Sacken.
Das hat sich geändert. Im November vergangenen Jahres forderte die UN ein weltweites Verbot der Praxis. Der 6. Februar wurde zum Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung erklärt.
FGM-freie Dörfer nach ägyptischem Vorbild
Auch im Irak wollten erst viele nichts von FGM wissen. Das liegt auch daran, dass Frauen die Beschneidung der Mädchen organisieren, ohne dass Männer etwas davon mitbekommen.
"Als die Mitarbeiterinnen des Garmyan-Teams vor acht Jahren berichteten, dass einige Dorffrauen ihnen von Genitalverstümmelung berichtet hatten, habe ich den irakischen Projektkoordinator Falah Muradkhin gefragt, ob wir da was machen sollen," erzählt von der Osten-Sacken. Aber der winkte ab. Davon habe er noch nie gehört. "Ein paar Tage später berichtete er erschüttert, er habe sich im Familienkreis umgehört: Alle seine Tanten, seine Schwestern seien beschnitten!"
Ähnlich mag es Sarhad Ajeb, dem Dorfvorsteher von Toutakhel, damals gegangen sein, als ihn die Mitarbeiterinnen von Wadi über weibliche Genitalverstümmelung aufklärten. Ajeb war entsetzt, sagt er. Er wollte, dass sein Dorf FGM-frei wird. Die Idee der FGM-freien Dörfer haben die Wadi-Mitarbeiter in Ägypten abgeguckt.
Männer tanzen mit blutbefleckten Bettlaken
Zuerst diskutieren sie anhand eines Aufklärungsfilms mit den Frauen des Dorfes. Die Frauen müssen zusagen, dass sie keine Beschneidungen mehr vornehmen wollen. Schließlich unterzeichnet der Dorfvorsteher einen Vertrag, in dem er sich verpflichtet, Sorge zu tragen, dass das so bleibt. In einer gemeinsamen Zeremonie wird dann ein Schild im Dorf aufgestellt, dass es als FGM-frei auszeichnet.
Toutakhel war unter den sieben ersten FGM-freien Dörfern im kurdischen Autonomiegebiet des Irak. Doch Sarhad Ajeb reichte das nicht. In seiner Ansprache bei der Zeremonie verlangte er, dass man nun auch die "widerliche Sitte mit dem Bettlaken" abschaffen müsse. In den Dörfern Irakisch-Kurdistans tanzen nach der Hochzeitsnacht die Nachbarn mit dem blutbefleckten Bettlaken durchs Dorf und feiern, dass die Frau ihre Jungfräulichkeit in dieser Nacht verloren hat.
Ajeb hatte seine Mission gefunden. "Mein Mann geht von Dorf zu Dorf und redet mit den anderen Dorfvorstehern über FGM und das Bettlaken", erzählt seine Frau Nasreen stolz, während sie Tee für die Gäste aus Sulaimaniya bereitet. Aus ihrem bunten, bodenlangen Kleid zieht sie ein Handy, um ihren Mann herbeizutelefonieren.
Genitalverstümmelung kein Tabuthema mehr
Der Dorfvorsteher ist ein "Anjuman" wie aus dem Bilderbuch. Die Kafija turbanähnlich um den Kopf geschlungen, setzt er sich in seinem Pluderhosenanzug im Schneidersitz den Gästen gegenüber und trinkt in einem Zug den Tee, den seine Frau ihm reicht. Ajeb erläutert er: "Es ist widerlich, sich in intime Angelegenheiten junger Menschen einzumischen."
Das Schild steht inzwischen nicht mehr in Toutakhel. "Die Leute aus den Nachbardörfern waren neidisch und haben es mit Steinen beschmissen", berichtet Nasreen. Neidisch ist man in den Nachbardörfern vor allem darauf, dass Toutakhel nun in den Genuss von Hilfsleistungen kommt. "Wenn wir einen Arzt brauchen, dann schickt Wadi einen aus der Stadt", erzählt Nasreen.
Im Nachbardorf Jalamord steht man der Sache noch skeptisch gegenüber. Der Dorfvorsteher hat Rhozan Kader eingeladen, den Aufklärungsfilm zu zeigen und mit den Frauen zu diskutieren. Das hat Kader in diesem Dorf vor einem Jahr schon einmal getan. "Manchmal zeigen wir den Film auch noch öfter, bis sich etwas tut", erläutert sie. "Nur wenige sind so aufgeschlossen wie der Dorfvorsteher von Toutakhel."
Politischer Druck hilft
Aber seit einem halben Jahr melden sich immer mehr Dorfvorsteher, die eine solche Aufklärung wünschen. Einer der Gründe sind die Fernsehspots. Seit Mai zeigen die kurdischen Fernsehsender einminütige Anti-FGM-Spots, die über das 2011 erlassene Gesetz gegen häusliche Gewalt aufklären.
Es stellt auch die weibliche Beschneidung unter Strafe. "Erst haben sich die Sender geweigert", erzählt der Projektkoordinator Falah Muradkhin. "Aber dann haben wir unseren Mann im Innenministerium angerufen."
Der Mann im Innenministerium ist Sarkawtomer Ahmed, der Leiter der Abteilung "Follow-up Gewalt gegen Frauen". Ahmed sitzt hinter einem massiven Schreibtisch, auf dem sich Berichte türmen. FGM-Fälle werden bei ihm noch nicht viele gemeldet, aber in anderem Zusammenhang hat er damit zu tun, sagt er.
"Wenn junge Paare nicht miteinander klarkommen, liegt es häufig daran, dass die Frau beschnitten ist." Vor dem Erlass des Gesetzes sei FGM ein Tabuthema gewesen, berichtet er. "Aber dann hat Wadi diese vielen Daten zusammengestellt, und deshalb konnten wir uns dafür einsetzen."
Abgeordnete wollten Thema totschweigen
Es war mehrjährige Lobbyarbeit, berichtet Falah Muradkhin. Schon 2007, als die ersten Ergebnisse der FGM-Studie vorlagen, informierten er und seine Mitarbeiter die Abgeordneten des kurdischen Regionalparlaments.
"Aber sie reagierten beschämt. Man solle über solche Themen nicht sprechen", erzählt Muradkhin. "Deshalb sind wir an die Medien gegangen. Wir schafften es, dass Reporter von CNN und 'Washington Post' berichteten."
Wadi machte Vorschläge für einen Gesetzentwurf und sammelte 14.000 Unterschriften. Schließlich nahm das kurdische Parlament das Gesetz an. Seitdem hat Wadi 50.000 Faltblätter gedruckt. Sie klären darüber auf, wie eine "glückliche Familie" funktioniert – ohne Gewalt.
Aufklärung für bedrängte Mädchen
Die Mitarbeiterinnen verteilen sie in Dörfern und Schulen. Dass die Schulleiter nun von selber die Organisation einladen, ist ein großer Fortschritt und nicht zuletzt Beamten wie Sarkawtomer Ahmed zu verdanken. Für ihn ist diese Arbeit das Wichtigste: "Aufklärung ist entscheidend. Die Schwierigkeit ist, auch die Frauen zu erreichen", sagt Ahmed.
In Jalamord läuft die Aufklärung zunächst zäh. Nur fünf Frauen und drei Mädchen erwarten Rozhan Kader in einer Lehmhütte, die wohl sonst das Fernsehzimmer des Dorfvorstehers ist. Sie erfährt, dass die anderen nicht von ihrer Hausarbeit weg könnten. Kader besteht darauf, dass jemand sie hole. Während sie den Videobeamer aufbaut, berichten ihr die Frauen von Problemen im Dorf.
Ein Mädchen werde ständig von einem Jungen angerufen. "Wenn die Eltern das erfahren, bringen sie sie um", sagt eine der Frauen. Besorgt erklärt Kader dem Mädchen, wie sie sich eine neue Nummer besorgen kann. Die junge Sozialarbeiterin weiß, dass solche Anrufe das Mädchen tatsächlich in Gefahr bringen, von der eigenen Familie ermordet zu werden.
"Wir dachten, das sei gut für unsere Töchter"
Nach dem Film hagelt es Vorwürfe gegen die Wadi-Mitarbeiterin. "Warum seid Ihr nicht eher gekommen? Jetzt habe ich schon alle meine Töchter beschneiden lassen", schimpft eine. "Wie konnten wir das wissen? Wir dachten doch, es sei gut für unsere Töchter."
Drei Frauen berichten von einem Mädchen, das nicht beschnitten war. Als sie heiratete, aßen die Gäste des Mannes nicht von den Speisen, die sie zubereitete. Deshalb habe sie nach der Geburt ihres ersten Kindes darum gebeten, beschnitten zu werden.
Eine der Frauen erzählt von ihrer eigenen Beschneidung: "Die Hebamme war blind, die Klinge war stumpf, es hat drei Stunden gedauert." Empörung bricht aus: Das sei gelogen. Das gäbe es nicht. Keine Beschneidung dauere drei Stunden.
Wutschnaubend laufen einige Frauen aus dem Raum. Rozhan Kader lässt sich vom wirren Ende ihres Workshops nicht entmutigen. "Dann kommen wir in ein, zwei Monaten eben wieder!", sagt sie und zuckt die Achseln. "Das Dorf ist noch nicht so weit, aber auf einem guten Weg."