Genitalverstümmelung – Fatwa oder Falschmeldung?
Hat die islamistische Gruppe IS die Genitalverstümmelung befohlen? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, denn Studien belegen, dass die Mehrheit der Frauen im kurdischen Teil des Irak beschnitten ist.
Von Hannah Wettig
Vergangene Woche berichtete "Spiegel online", die Vereinten Nationen (UN) hätten sich mit einer Falschmeldung blamiert. Die militant islamistische Gruppe Islamischer Staat (IS), vormals Isis, habe nicht die genitale Verstümmelung aller Mädchen und Frauen im irakischen Mosul befohlen. Das hatte zuvor die humanitäre Koordinatorin der UN im Irak, Jacqueline Badcock, behauptet.
Doch die Falschmeldung ist womöglich nicht so falsch wie behauptet. Badcock bezog sich auf ein im Internet kursierendes religiöses Gutachten (Fatwa). Dabei handelte es sich nicht um einen Befehl und der Ausstellungsort war nicht Mosul. Doch die Behauptung, das Gutachten widerspreche dem von IS vertretenen salafistischen Islam, ist falsch.
Tatsächlich tauchte die Fatwa zur weiblichen Genitalverstümmelung schon vor Wochen in arabischen sozialen Netzwerken auf. Sie zitiert drei Hadithe (Erzählungen über das Leben Mohammeds), in denen der Prophet unter anderem sagt, die weibliche Beschneidung lasse das Gesicht der Frau erstrahlen und sei gut für den Mann. Damit begründet der Autor der Fatwa im Namen des IS-Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi, dass alle Frauen dazu aufgerufen seien, sich beschneiden zu lassen.
Auf Twitter und in anderen Netzwerken nahmen Nutzer an, diese Fatwa stünde im Zusammenhang mit der Eroberung der irakischen Provinz Mosul. Kurz zuvor hatte der IS dort ein Kalifat ausgerufen; nun erlässt er dort rigide islamische Gesetze. Frauen müssen sich komplett verschleiern, Christen eine hohe Kopfsteuer zahlen, Dieben werden die Hände abgehackt.
Keine Information zum Alter in der Fatwa
Jacqueline Badcock übernahm diese Interpretation und behauptet zudem, es handele sich um einen Befehl, von dem alle Mädchen und Frauen im Alter von 11 bis 49 Jahren betroffen seien. Diese Information stand nicht in der Fatwa. Von irakischen UN-Organisationen war nicht zu erfahren, wie Badcock davon erfahren haben mochte.
Irakische Menschenrechtsorganisationen wussten von der Altersangabe nichts, hielten die Fatwa selbst aber für authentisch. Kurz nachdem Medien die Aussagen von Badcock übernommen hatten, twitterten mehrere Nahost-Korrespondenten, in Mosul habe niemand von dem Edikt gehört.
Das war wenig erstaunlich, denn die Fatwa war nicht kürzlich in Mosul erlassen worden. Die Datumszeile benannte den 11. Juli 2013 in Aleppo. Dass in sozialen Netzwerken "Neuigkeiten" zuweilen Monate später aufgegriffen werden, sollte niemanden erstaunen, der mit dem Internet vertraut ist. Erstaunlich ist allerdings, wie schnell aus der Erkenntnis, dass Ort und Zeit der Fatwa anders waren als behauptet, geschlossen wurde, es handele sich insgesamt um eine Falschmeldung.
Als Kronzeugen dienten Nahostexperten. "Spiegel online" zitierte Charles Lister von der Brookings Institution mit der Aussage, weibliche Genitalverstümmelung sei kein Merkmal des salafistischen Islams und passe nicht zum "Image" von IS. Der britische "Telegraph" zitierte Michael Stephens mit der Aussage, die Sprache sei nicht die von IS.
Dabei dürfte Stephens wissen, dass sich bei IS kaum Theologen mit entsprechender Sprache finden. Bei dieser Fatwa stimmte nicht einmal die Orthografie. Die Argumentation aber entspricht dem, was salafistische Prediger wie der saudische Fernsehscheich Muhammed Salih al-Munajjid über weibliche Genitalverstümmelung sagen.
Seit die UN der weiblichen Genitalverstümmelung weltweit den Kampf erklärt haben, erlassen islamische Geistliche fast im Wochenrhythmus Fatwas dazu. Nur wenige distanzieren sich wie jüngst der iranische Großajatollah Ali Chamenei, der die Praxis nicht mehr zeitgemäß nannte. Die wenigsten wie die Ahmadiyya-Sekte verurteilen sie als unislamisch.
Nach Mehrheitsmeinung islamischer Gelehrter handelt es sich um eine "gute Tat". Allein in Ägypten erlässt die religiöse Leitinstitution, die Al-Azhar-Universität, schon seit Jahren Fatwas gegen weibliche Genitalverstümmelung. Seit 2010 gilt das auch für Mauretanien.
Fatwas kann jeder religiös Gebildete erlassen
Es ist insofern plausibel, dass ein Vertreter der Gruppe Islamischer Staat in Aleppo eine solche Fatwa ausgestellt hat. Nicht als Erlass, der umgesetzt werden muss wie die Verschleierung von Frauen, sondern als Antwort auf die Frage eines Gläubigen. Solche Antworten sind die häufigste Form von Fatwas. Sie behandeln Alltagsfragen wie das Waschen vor dem Beten oder die Bereitung von Essen. Daher ist auch der Einwand, die IS-Fatwa sei nicht öffentlich verkündet worden, nicht stichhaltig. Ebenso wenig das Argument, mehrere Anhänger hätten die Fatwa als falsch bezeichnet.
Die zitierten Anhänger sind allesamt Twitterer, kein einziger namhafter Führer ist darunter. Fatwas kann jeder religiös Gebildete erlassen und im sunnitischen Islam gibt es nicht einmal einen vorgeschriebenen Bildungsweg. Der Kreis derer, die Fatwas erlassen, ist unübersichtlich, auch für Anhänger der jeweiligen Gruppe. Während also die Experten mit fragwürdigen Argumenten erklärten, es könne gar nicht sein, dass der IS eine solche Fatwa erlassen habe, kritisierte niemand die UN-Vertreterin dort, wo sie tatsächlich irrte.
Jacqueline Badcock hatte behauptet, im Irak werde weibliche Genitalverstümmelung nicht praktiziert. Diese Aussage ist aber – im Gegensatz zu allem, was man gegen die Fatwa vorbringen kann – nachweislich falsch. Für die kurdischen Gebiete des Irak belegen Studien, dass eine Mehrheit der Frauen verstümmelt ist.
In anderen Regionen war es bisher aus Sicherheitsgründen unmöglich, Daten zu erheben. Für den Süden des Landes stellte eine Studie dieses Jahres eine Verbreitung von 25 Prozent fest. Auch für das Nachbarland Iran gibt es neuerlich Studien, die anzeigen, dass es die Praxis dort nicht nur bei Kurden gibt.
Dass die UN davon nichts wissen wollen, erstaunt. Finanziert doch aktuell ihr Kinderhilfswerk eine große Kampagne gegen weibliche Genitalverstümmelung im Irak.