Verstümmeln im Namen Gottes
Islamisten protestieren gegen ein vom nordirakischen Parlament verabschiedetes Gesetz, das Genitalverstümmelung und häusliche Gewalt verbietet. Sie wollen verhindern, dass sich die Gesetzgebung von der Sharia löst.
von Arvid Vormann
Darf der Mensch seine »eigenen« Gesetze erlassen? Darf er sich zum Souverän erklären, oder ist das bereits eine blasphemische Anmaßung, weil diese Rolle ausschließlich Gott zukommt? Ob die menschliche Gesetzgebung sich von religiösen Vorschriften lösen darf, ist eine der für die politische Entwicklung der islamischen Welt entscheidenden Fragen, wenn nicht die Grundfrage überhaupt, und sie stellt sich seit dem Beginn der arabischen Revolten mit neuer Aktualität. Die Islamisten und viele Geistliche fordern, die Gesetze maßgeblich an der Sharia auszurichten und vor allem in der Familiengesetzgebung keine Elemente zuzulassen, die ihr widersprechen. Solche Forderungen geraten aber unweigerlich in Konflikt mit elementaren Menschenrechten.
Auch in der kurdischen Autonomieregion des Irak wird dieser Konflikt gegenwärtig ausgetragen. Im Hinblick auf die Frauenrechte und die Stellung der Frau in der Gesellschaft war man hier zwar schon immer etwas aufgeschlossener als in Bagdad, jedenfalls auf dem Papier. Doch die Rolle der Sharia ist ungeklärt. In der Autonomieregion wurde bisher noch keine eigene Verfassung verabschiedet, und die irakische Verfassung fordert ungeachtet des Widerspruchs, dass ein Gesetz sowohl den Maßgaben der Sharia als auch den Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten Genüge tun müsse. Nachdem Menschenrechtsgruppen jahrelang ein ausdrückliches Verbot der im Nordirak verbreiteten weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) gefordert hatten, verabschiedete das Regionalparlament nun vor Kurzem ein neues Gesetz, das Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie Zwangsverheiratungen, Kinderarbeit und nicht zuletzt die Genitalverstümmelung verbietet und unter Strafe stellt.
Es wäre das erste Gesetz gegen Genitalverstümmelung im gesamten Nahen Osten. Beachtlich ist dieser Schritt vor allem angesichts des zunächst erheblichen Widerstands gerade aus Kreisen der Regionalregierung. Das Problem der Genitalverstümmelung wurde verharmlost oder entgegen aller Evidenz schlichtweg geleugnet. Im Jahr 2008 weigerte sich das Parlament noch, einen Gesetzentwurf zum Thema zu diskutieren. Im November 2010 kam der Durchbruch. Premierminister Barham Salih erklärte öffentlich, FGM sei gefährlich und dürfe nicht toleriert werden.
Mit dem nun verabschiedeten Gesetz sehen einige religiöse Gruppen eine rote Linie überschritten. »Wollt ihr die Kontrolle über eure Familien verlieren?« ist das Motto einer jüngst ins Leben gerufenen Kampagne religiöser Würdenträger, die an den Präsidenten Massoud Barzani appelliert, das verabschiedete Gesetz auf keinen Fall mit seiner Unterschrift zu ratifizieren. Da diese Unterschrift erforderlich ist, um das Gesetz in Kraft zu setzen, dauern vorerst die Spekulationen darüber an, ob Barzani in letzter Sekunde vor den Islamisten einknicken wird.
Die Islamisten scheuen die Konfrontation nicht. Ismail Sussai, ein Mullah aus Arbil, machte kürzlich Schlagzeilen, als er in einer Predigt die Genitalverstümmelung als eine gute Sache verteidigte. Imam Shafi’i habe FGM als islamische Pflicht angesehen, und daher sollten alle Mädchen und Frauen beschnitten sein. Die meisten irakischen Kurden fühlen sich der nach dem frühmittelalterlichen Rechtsgelehrten benannten shafi’itischen Rechtsschule verpflichtet. FGM sei Bestandteil der Sharia, sagte Sussai, und das neue Gesetz diene nur dazu, den Juden zu gefallen. »Sie gehorchen ihrem Kommando und missachten die Sharia Allahs«, ereiferte er sich, als wolle er die hierzulande verbreitete Ansicht, Genitalverstümmelung habe nichts mit dem Islam zu tun, widerlegen.
Auch die Kriminalisierung der häuslichen Gewalt verurteilte er: »Allah sagt, wenn eine Frau ihrem Mann nicht gehorcht, darf er sie schlagen. Das Gesetz gegen häusliche Gewalt verstößt gegen die Sharia. (…) Wie kann ich es hinnehmen, dass Mädchen zu Hause nicht geschlagen werden dürfen? Dass ein Junge nicht geschlagen werden darf? Hat der Prophet selbst nicht gesagt: ›Wenn ein Kind im Alter von zehn Jahren noch nicht betet, dann schlage es‹? Sie setzen sich damit über die Überlieferungen des Propheten hinweg.«
In dieser Schärfe ist der Protest des Mullahs, über den auf den Titelseiten vieler Tageszeitungen der Region berichtet wurde, sicher eine Ausnahme. Doch grundsätzlich steht er mit seinen Ansichten keineswegs allein. Andere Mullahs sekundierten, und die Kampagne gegen das Gesetz soll ihre Kräfte bündeln. Unter den Geistlichen und Religionsgelehrten wird sich in nächster Zeit wahrscheinlich eine recht heftige Kontroverse entspinnen, denn längst nicht alle teilen das fundamentalistische Religionsverständnis. So verkündete der renommierte Sharia-Experte Mustafa Zalmi im Februar, FGM sei im Islam definitiv verboten, und er sei bereit, diese Frage mit jedem zu diskutieren, der das anders sehe.
Bereits im vorigen Jahr erließ das Fatwa-Komitee der kurdischen Union der Islamgelehrten ein Dekret zum Thema FGM, dessen Halbherzigkeit davon zeugte, wie uneinig sich die Geistlichen sind. Dort hieß es, FGM sei im Islam nicht vorgeschrieben, es handele sich um eine vorislamische Praxis. Den Eltern sei es freigestellt, sich für die »Beschneidung« ihrer Tochter zu entscheiden, wegen zu befürchtender gesundheitlicher Schäden rate man jedoch, darauf zu verzichten.
Die Auseinandersetzung über das neue Gesetz kumuliert in der Entscheidung »Menschenrechte oder Gottesrecht«, ihr Ergebnis wird vor allem für die Rechte von Frauen und Mädchen, aber auch für das Selbstverständnis der Autonomieregion sehr bedeutsam sein und die Entwicklung in anderen Landesteilen beeinflussen. Die Zentralregierung und das nationale Parlament haben sich noch nicht mit dem Thema Genitalverstümmelung befasst, obwohl diese Praxis vermutlich nicht nur in der Autonomieregion verbreitet ist.