FRIZ – ZEITSCHRIFT FÜR FRIEDENSPOLITIK | 12.2008
Genitalverstümmelung: Wandel ist möglich
Eine Kampagne von lokalen Menschenrechts- und Frauenorganisationen erzielt im kurdisch regierten Norden des Iraks unerwartete Erfolge im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung.
Von Cordula Reimann
Auch wenn der designierte US-amerikanische Präsident Barack Obama seinen Wahlslogan «Wandel ist möglich» nicht auf die Situation im Irak bezog, so könnte er durchaus auf die momentanen gesellschaftlichen Veränderungen in Teilen des Nordiraks zutreffen. Nach bald sechs Jahren US-amerikanischer Intervention dominieren nach wie vor Bilder der alltäglichen Gewalt und Brutalität vor allem gegen die Zivilbevölkerung die Berichterstattung. Der dramatische Anstieg von gender-spezifischer Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Form von häuslicher Gewalt und «Ehrenmorden» – charakteristisch für viele Nachkriegsgesellschaften – ist dabei selten Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung und Aufmerksamkeit. So erstaunt es auch nicht, dass die weit verbreitete Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung im kurdischen Nordirak bis dato nicht im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit stand.
Bekannt vor allem aus dem afrikanischen Kontext und oft euphemistisch als «afrikanischer Brauch» abgetan, gilt die weibliche Genitalverstümmelung als eine der brutalsten Menschenrechtsverletzungen und Formen von genderspezifischer Gewalt. Unter Genitalverstümmelung wird die gezielte Amputation und Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsorgane verstanden. Verstümmelte Frauen und Mädchen leiden sehr oft unter extremen körperlichen Schäden, Schmerzen und starken psychosomatischen Störungen oder müssen mit ihrem Leben zahlen. Es wird davon ausgegangen, dass die Amputation oder Verstümmelung weiblicher Genitalien bereits praktiziert wurde, bevor es Religionen wie den Islam oder das Christentum gab. Innerhalb
des Islams gibt es heute jeweils Frauen und Männer, die überzeugte GegnerInnen und BefürworterInnen der Genitalverstümmelung sind.
Im Nordirak wird Genitalverstümmelung mit Verweis auf tief verwurzelte soziale Praktiken und/ oder den Islam legitimiert und praktiziert. Bis dato ist bekannt, dass die Genitalverstümmelung vor allem im südlichen irakischen Kurdistan – besonders in ländlichen und verarmten Gebieten – sehr oft an Mädchen im Alter zwischen vier und sechs Jahren durchgeführt wird.[1]
Tabuisierung und Problematisierung
Wo die Genitalverstümmelung mit Verweis auf kulturelle Traditionen praktiziert wird, bleibt ihre Problematisierung ein grosses soziales Tabu. Und wo Tabus existieren, ist es schwierig, an überzeugendes Datenmaterial und Statistiken über Opfer und die sozialen-kulturellen Begleitumstände von Genitalverstümmelung zu gelangen. Ohne diese empirisch gesicherten Grundlagen können weder gezielte Hilfsmassnahmen noch politisches und öffentliches Bewusstsein geschaffen werden. Aber nur durch eine Bewusstseinsänderung bei Frauen und Männern kann eine nachhaltige Ächtung dieser menschenverachtenden
Praxis erzielt werden.
Umso bedeutender ist es, dass lokale Initiativen, Frauenorganisationen und Medien es im Nordirak letztes Jahr geschafft haben, dieses Tabu langsam aber nachhaltig aufzubrechen und eine zunehmend kritische Öffentlichkeit gegen Genitalverstümmelung und andere Formen von gender-spezifischer Gewalt zu mobilisieren. So wäre auch die aktuelle Diskussion der Gesetzesinitiative zum Verbot weiblicher Genitalverstümmelung in der kurdischen Autonomieregierung ohne die Kampagne «Stoppt FGM [2] in Kurdistan» kaum vorstellbar gewesen.[3] Diese Kampagne, ein Zusammenschluss von lokalen Menschenrechts- und Frauenorganisationen, Ärztinnen und Anwältinnen, gewann 2007 durch breite Aufklärungskampagnen in den lokalen Medien innert kurzer Zeit mehr als 14 000 UnterstützerInnen für ein gesetzlich verankertes Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung, darunter viele prominente Intellektuelle, Journalisten und Schauspielerinnen aus Kurdistan.[4] Verschiedene Organisationen legten im gleichen Jahr Empfehlungen für ein Gesetz gegen Genitalverstümmelung an die kurdische Regionalregierung vor. Unterstützt wurde die Kampagne dabei von der deutschen Hilfsorganisation WADI, die seit 1993 vor allem im Bereich Frauenrechte im Nordirak aktiv ist. WADI stiess bei ihrer Arbeit in entlegenen nordirakischen Gegenden auf diverse Fälle von Genitalverstümmelung.
Dank diverser Umfragen und Erhebungen von WADI gilt inzwischen als empirisch gesichert, dass in vielen ländlichen Gebieten Nordiraks mehr als 60 Prozent der Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen sind.[5] WADI unterstützt dabei so genannte «mobile Aufklärungsteams». Diese bestehen aus einer Sozialarbeiterin und einer psychologischen oder ärztlichen Fachkraft sowie oft auch einer Juristin, die zusammen in entlegenen ländlichen Gegenden und Dörfern im kurdischen Nordirak arbeiten: Sie informieren Männer und Frauen, betreuen Frauen gesundheitlich und psychosomatisch und ermutigen sie, offen über Genitalverstümmelung zu sprechen.
Initiativen wie die Kampagne «Stoppt FGM in Kurdistan», aber auch friedliche und engagierte Demonstrationen wie jene gegen Polygamie[6] , die dieses Jahr am 25. November, dem «Internationalen Tag für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen», in der Provinzhauptstadt Suleymaniah stattfand, zeigen, dass im Norden Iraks Prozesse demokratischer und zivilgesellschaftlichen Protestes entstehen, die in dieser Form vor ein paar Jahren unvorstellbar gewesen wären. Diese Aktivitäten und Formen des Protestes beweisen auch, dass lokale Initiativen – fernab von der internationalen Aufmerksamkeit – trotz sehr begrenzter finanzieller und administrativer Ressourcen und mit relativ einfachen Mitteln erfolgreich zu sozialem Wandel beitragen und die konkrete Lebenssituation von Frauen und Mädchen verbessern können.
Die InitiantInnen der verschiedenen Aktivitäten wissen, dass Gesetze und Verbote nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn sie Hand in Hand mit radikalen Veränderungen von kulturell tief verwurzelten oder religiös bedingten Praktiken einhergehen. Diese Veränderungen sind nur zu erreichen durch langfristige und nachhaltige Aufklärungs- und Unterstützungsinitiativen für Männer und Frauen. Entscheidend ist dabei, dass sie in Zusammenarbeit mit Schulen, Krankenhäusern, Medien und vor allem muslimischen Autoritäten durchgeführt werden.
Fehlende internationale Unterstützung
Auffallend ist, dass im Gegensatz zu vielen afrikanischen Ländern, im kurdischen Nordirak viele lokale Organisationen gegen Genitalverstümmelung und andere Formen gender-spezifischer Gewalt ohne grössere logistische und technische Unterstützung von internationalen Organisationen und Geldgebern wie den Vereinten Nationen und der Europäischen Union kämpfen.
Dass die internationale Gemeinschaft eine wichtige Rolle zu spielen hat und sich der Verantwortung nicht entziehen kann, daran hat auch Yakin Ertürk, türkische Soziologin und UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen, am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen mahnend erinnert: Die internationale Gemeinschaft müsse verhindern, dass die Frauen die «‹einfache Zielscheibe› von Gewalt und die unsichtbaren Opfer des Konfliktes im Irak»[8] bleiben. Erfolg versprechend sind hier internationale Frauennetzwerke zum Thema Genitalverstümmelung[9] oder «Peace Women Across the Globe»[10] , die den Austausch, Bewusstseinsschaffung, Advocacy- und Lobbyarbeit ermöglichen und vorantreiben.
Gerade weil davon ausgegangen wird, dass Genitalverstümmelung auch in anderen Ländern des Nahen Ostens praktiziert wird, verfolgen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen in diesen Ländern mit Spannung, wie in Kurdistan das Genitalverstümmelung behandelt wird wird. Auch wenn die sozio-politischen Herausforderungen für die kurdische Regionalregierung angesichts eines erstarkten Islamismus nicht zu unterschätzen sind, besteht die reale Chance, dass vom kurdischen Nordirak eine hoffnungsvolle politische Signalwirkung ausgehen kann. Gilt der Norden doch nicht zuletzt als demokratisches Vorzeigemodell für sozialen Wandel im Irak und den weiteren Nahen Osten, wo es wenig bis keine zivilgesellschaftlich organisierte Öffentlichkeit gibt.
Fussnoten
[1] www.stopfgmkurdistan.org
[2] Female Genital Mutilation, im Deutschen übersetzt als weibliche Genitalverstümmelung.
[3] www.stopfgmkurdistan.org
[4] www.stopfgmkurdistan.org, für den Wortlaut der Petition siehe: www.stopfgmkurdistan.org/en/petition.htm
[5] www.wadinet.de
[6] www.wadinet.de/blog/?p=1276
[7] www.wadinet.de/blog/?p=1276
[8] «Violence Against Iraqi Women Continues Unabated, UN Expert says» , Pressemitteilung der Vereinten Nationen am 25. November 2008
www.unog.ch/80256EDD006B9C2E/(httpNewsByYear_en)/BE32B9730BD34C74C125750C003096CA?OpenDocument
[9] Z.B. die internationale Kampagne für die Abschaffung weiblicher Genitalverstümmelung «Stop FGM» (www.stopfgm.org) oder das «The FGC Education and Networking Project», das sich als «online clearinghouse» und Gemeinschaft für ForscherInnen, AktivistInnen, AnwältInnen und Pflegepersonal mit dem Ziel des Erfahrungsaustausches versteht (www.fgmnetwork.org/faq.php)
[10] www.1000peacewomen.org/typo/index.php?id=38&L=0