"Null Toleranz gegenüber weiblicher Genitalverstümmelung" - seit fünf Jahren steht der 6. Februar für den Kampf gegen die Beschneidung. Obwohl engagierte Frauen wie Waris Dirie das Problem bekannter gemacht haben, ist es heute akuter denn je. 150 Millionen Frauen und Mädchen sind weltweit betroffen - und nach neuen Erkenntnissen handelt es sich dabei keinesfalls nur um Afrikanerinnen: Auch im Nahen Osten und sogar in Deutschland ist die Beschneidung verbreitet.
"Meine Mutter sagte zu mir: Wenn du dich nicht beschneiden lässt, brauchst du nicht wiederzukommen." Das Mädchen ist vielleicht 13 oder 14 Jahre alt. Sie erzählt, wie die Frauen aus ihrem Dorf sie unter einem Vorwand zum Haus ihrer Tante lockten, wie man sie festhielt und einschüchterte. "Es ist eine Sünde, nicht beschnitten zu sein", sagten sie ihr. "Das Essen, das du kochst, wird verdorben sein, das Wasser, das du schöpfst, vergiftet." Sie erzählt von der Rasierklinge, den Schmerzen, der Asche, die man ihr zur Desinfizierung auf die blutende Wunde streute. Ihre Offenheit ist verstörend - und zeigt, wie sehr solche Szenen in ihrer Welt zum Alltag gehören. "Jeder sollte beschnitten sein", sagt der blinde Dorfmullah. "Frauen, Männer, besonders Frauen."
Das Mädchen lebt in einem Dorf im kurdischen Nordirak. Sie ist eine von vielen Kurdinnen, die in der Dokumentation "Handful of Ash" (deutsch: Eine Handvoll Asche") des Regisseurs Nabaz Ahmed erstmals offen über ihre Beschneidung und die traumatischen Folgen reden. Es ist der erste Film überhaupt aus dieser Region, der sich dem Thema widmet.
Bislang galt die weibliche Genitalverstümmelung als rein "afrikanisches Problem". 2003 begann die Hilfsorganisation Wadi e.V., die sich seit über zehn Jahren für wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte im Nahen Osten einsetzt, Frauen in den kurdischen Gebieten zu diesem Thema zu befragen. Die Ergebnisse zeigten sehr schnell, dass die Beschneidung auch dort weit verbreitet ist. "Von 3665 befragten Frauen und Mädchen gaben 2403 an, beschnitten zu sein - das entspricht 65 Prozent", erklärt Wadi-Chef Thomas von der Osten-Sacken. Die vielen Briefe und E-Mails von Betroffenen, die Wadi aus anderen Ländern im Nahen Osten bekommt, lassen ihn darauf schließen, dass die Quote im restlichen Irak, im Iran oder Syrien ähnlich hoch ist. "Aber die politischen Verhältnisse in diesen Ländern erschweren die Aufklärungsarbeit, in vielen Gegenden wäre es schlicht zu gefährlich, das Thema anzusprechen", so von der Osten-Sacken.
Auch im kurdischen Irak wurde die Arbeit der Wadi-Mitarbeiter erst möglich, nachdem das Baath-Regime von Saddam Hussein gestürzt worden war. Wadi schickte mobile Teams in die Dörfer, um die Frauen aufzuklären und die Opfer durch medizinische und psychologische Betreuung zu unterstützen . Dabei sei es vor allem wichtig, den Bewohnern klar zu machen, dass nicht alle islamischen Prediger die Beschneidung als gottgewollt betrachten. "Die große Mehrheit der Frauen gibt an, dass man sie aus religiösen Gründen beschnitten habe", so Thomas von der Osten-Sacken. "Die Mullahs spielen als Autorität eine große Rolle." Mit der Beschneidung werde "Reinheit" oder "Jungfräulichkeit" verbunden - doch die wahren Motive liegen für den Wadi-Chef auf der Hand: "In erster Linie geht es darum, die Frau sexuell zu unterdrücken."
Die Aufklärung zeigt Wirkung: Schon jetzt konnte Wadi einen Rückgang der Genitalverstümmelungen verzeichnen. "Die positive Resonanz der Frauen und auch der Männer ist enorm", sagt von der Osten-Sacken. Bei einer Petition im vergangenen Jahr wurden in nur zweieinhalb Wochen 13.000 Unterschriften gesammelt. Am Internationalen Frauentag im März will das kurdische Parlament die Genitalverstümmelung sogar per Gesetz unter Strafe stellen.
Thomas von der Osten-Sacken ist angesichts dieser Erfahrung optimistisch, dass man in anderen Ländern ähnliche Erfolge erzielen kann - und nicht nur im Nahen Osten. "Meiner Ansicht nach handelt es sich hier um ein globales Problem."
Weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland
Wie global das Problem wirklich ist, zeigt ein Blick nach Europa. Die Initiative "TaskForce für effektive Prävention von Genitalverstümmelung" beobachtet nicht nur eine wachsende Zahl von Beschneidungen im muslimischen Bosnien-Herzegowina. Berichte über Verstümmelungen gebe es auch aus Ländern wie Frankreich, Norwegen, den Niederlanden - und Deutschland. Nach Berechnungen von Terre des Femmes leben in Deutschland mindestens 4.000 gefährdete Mädchen, 19.000 Migrantinnen seien bereits beschnitten. "TaskForce"-Gründerin Ines Laufer schätzt die Zahl der gefährdeten Kinder sogar auf 30.000. "Wir müssen davon ausgehen, dass Familien, die aus Ländern mit einer hohen Beschneidungsquote stammen, diese Praxis womöglich auch in Deutschland weiterführen."
Die tatsächliche Zahl der Opfer festzustellen, ist schwierig. Zu intim sind die Verletzungen, zu jung die Betroffenen. "Aber nur weil das Problem unsichtbar ist, heißt das nicht, dass es nicht existiert", so Laufer. Terre des Femmes und die "TaskForce" fordern darum, dass in Deutschland genauer hingeschaut wird. "Wir brauchen zum Beispiel verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen und eine Meldepflicht für Kinderärzte", so Laufer. Denn die Ärzte seien oft die einzigen, die Zugang zu den Mädchen hätten und eine Beschneidung feststellen könnten.
Doch die Politik tut sich schwer mit solchen Maßnahmen; bestimmte ethnische Gruppen könnten diskriminiert werden, und dann gebe es ja auch eine ärztliche Schweigepflicht. Heidemarie Grobe von Terre des Femmes hat für solche Argumente nur wenig Verständnis. "Es geht hier immerhin um schwere Gewalt gegen Kinder."
Info
Die Dokumentation "Handful of Ash" des Regisseurs Nabaz Ahmed hatte am 5. Februar seine Deutschlandpremiere in Hamburg. Die Produzenten von Wadi e.V. wollen ihn in den kommenden Monaten in weiteren deutschen Kinos zeigen. Die nächste Aufführung ist am 19. März im Eiszeit-Kino in Berlin.