Irak: "So viele Mädchen sind beschnitten"
Die Hilfsorganisation "Wadi" kämpft für Frauenrechte im Nordirak.
von Wieland Schneider
Die Stimme des Muezzins durchbricht die Stille. Doch diesmal ruft er nicht zum Gebet. "Alle Frauen sollen sich bei der Schule versammeln", tönt es aus den Lautsprechern der Moschee. Minuten vergehen. Dann tauchen zwischen den niedrigen Lehmhäusern die ersten Gestalten auf - eingehüllt in lange bunte Gewänder, die Köpfe mit weißen oder schwarzen Tüchern bedeckt. In der Hitze der Mittagssonne marschieren die Frauen langsam auf die Schule des nordirakischen Dorfes Awaqut zu.
Der kleine Ort nahe der Stadt Kifri ist einer der letzten Außenposten der irakischen Kurdengebiete. Die meisten Nachbardörfer sind bereits arabisch. Hier beginnt die Zone, in denen sunnitische Rebellen ihr Unwesen treiben. Fernab davon, in den kurdischen Machtzentren Suleimania und Arbil, interessiert man sich kaum für Awaqut. Die Dorfstraßen sind ungeteert. Einzig das Schulgebäude ist in gutem Zustand.
Langsam füllt sich die Klasse. Dutzende Frauen quetschen sich in die Bänke. Vor der Schule haben sich einige Männer versammelt, werfen neugierige Blicke auf den Eingang des Gebäudes. Doch sie haben heute keinen Zutritt. Denn heute sollen die Frauen unter sich bleiben und ungestört über wichtige Themen sprechen.
Als klar wird, wie brisant das Thema ist, wird es laut in der Klasse. "Wir müssen diesen Film nicht sehen", brüllt eine Dorfbewohnerin. "Ach was. Hören wird doch einfach, was sie uns zu sagen haben", entgegnet eine andere. Der Film, den die Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisation "Wadi" vorführen, berührt ein Tabu: Genitalverstümmelung an Mädchen.
"Es ist erschreckend, wie viele Frauen hier in den Dörfern beschnitten sind", berichtet Hero Nejib Samin, medizinische Assistentin der mobilen Teams von "Wadi". Die Teams der Hilfsorganisation suchen auch die entlegensten Orte auf, um den Bewohnerinnen medizinische Unterstützung zu leisten und ihnen in Rechtsfragen beizustehen. "Wir haben zu den Frauen in Awaqut bereits eine sehr enge Beziehung aufgebaut", meint Samin. "Andernfalls hätten wir diesen Film gar nicht zeigen können."
In dem "Wadi"-Aufklärungsfilm wird den Frauen erklärt, wie gefährlich Verstümmelung der Genitalien für die Mädchen ist. Auch zwei Mullahs kommen zu Wort, erklären, dass Beschneidung nicht in Einklang mit dem Koran steht.
Für die "Wadi"-Mitarbeiterinnen ist wichtig, gerade bei den Frauen Bewusstseinsbildung zu betreiben. Es sei nämlich keineswegs so, dass nur die Väter die Beschneidung der Töchter verlangen. "Es gibt hier keinen großen Unterschied zwischen einem traditionell denkenden Mann und einer traditionell denkenden Frau", meint Samin. 108 Frauen haben in Awaqut an dem Aufklärungsprogramm von "Wadi" teilgenommen. 78 davon berichteten den Helferinnen, beschnitten zu sein. Erhebungen von "Wadi" zufolge dürfte in den Dörfern der gesamten Region Germian etwa 60 Prozent der Frauen und Mädchen beschnitten sein.
Suleimania, Hauptstadt der südlichen Kurdengebiete, liegt nur etwa hundert Kilometer von Awaqut entfernt. Doch es scheint, als läge sie am anderen Ende der Welt. Frauen in engen Jeans und offenem Haar spazieren durch die Straßen. Hier fällt es schwer zu glauben, dass Genitalverstümmelung auch im Nordirak ein Problem sein soll. "Beschneidung? Das gibt es doch nur in Afrika", meint ein kurdischer Beamter.
"Zu Beginn wollten die Behörden das Problem nicht wahrhaben", meint Mary Kreutzer von "Wadi"-Österreich. "Das hat sich aber rasch gebessert." An einer Konferenz über Beschneidung nahmen in der Kurden-Hauptstadt Arbil bereits Vertreterinnen der großen Kurdenparteien teil. Und zu dem Thema wurde eine eigene Kommission gebildet.
Für die Frauen von Awaqut ist Arbil mit seinen Konferenzen und Kommissionen weit entfernt. Sie sind in ihren Traditionen verhaftet. Diese zu ändern bedarf intensiver Aufklärung - und viel Zeit.